Dr. Winfried Kösters: „Nicht öde sein reicht nicht für Deutschland“

Kösters „Deutschland will einfach nicht veröden“ – unter dieser Überschrift rechnete Christian Schwägerl am 23. September in der FAZ mit der Zunft der Demografen ab. Sie hätten den Bevölkerungsrückgang in Deutschland als eherne Gewissheit verkündet und damit den Aufbau einer regelrechten „Schrumpfungsindustrie“ begründet. Nun komme alles ganz anders. Deutschland wachse. Dr. Winfried Kösters, Autor des Bestsellers „Weniger, bunter, älter“ und schon mehrfach Redner auf Kongressen des Demografienetzwerks FrankfurtRheinMain, ist ein führender Vertreter dieser Industrie. Er antwortet hier auf die Vorwürfe des FAZ-Redakteurs.

Herr Dr. Kösters, der Autor Christian Schwägerl hält den Demografie-Experten in Deutschland vor, sie hätten ihre Prognosen als Gewissheiten ausgegeben und Nebenbedingungen unterschlagen. Fühlen Sie sich getroffen?
KÖSTERS: Überhaupt nicht. Der zentrale Gedanke, der diesem Artikel zugrunde liegt, spiegelt sich in dem Satz wieder: ‚Aber was, wenn Zustrom und Geburtenboom anhalten?‘ Dies gedanklich durchzuspielen, ist nicht neu, aber sicherlich richtig. Ich persönlich habe stets auf die Wirkung von mehr Kindern hingewiesen, es aber immer als wenig wahrscheinlich bezeichnet. Ebenfalls habe ich auf die möglichen Wanderungen (weniger durch Kriege, als mehr durch den Klimawandel bedingt) als Unbekannte hingewiesen.

Aber nun nehmen die „Unbekannte“ Gestalt an und füllen Deutschland. Hat Schwägerl mit den Fakten nicht recht?
KÖSTERS: Dass der demografische Wandel gestaltbar ist, ist unbestritten. Die Grundlagen (Geburten, Zuwanderung, Alterung) bleiben dabei immer relevant. Doch wer konnte oder wollte an dieses „Geschenk“ der Flüchtlinge denken, das im Übrigen erst ein wirkliches Geschenk wird, wenn es gelingt, sie nachhaltig in die deutsche Gesellschaft zu integrieren. Allein das ist ein Mammutaufgabe, die sich auch in der Facette „bunter“ des demografischen Wandels ausdrückt. Und die Facette „weniger“? Von einem derzeitigen Geburtenboom zu sprechen, halte ich doch für übertrieben. Die Quote liegt nach wie vor bei 1,41. Wenn es gelänge, dass die potenziellen Mütter und Väter (Menschen zwischen 23 und 35) deutlich mehr Familien mit deutlich mehr Kindern gründen würden, wäre das sicherlich sehr schön, doch bevor sich das auf dem Arbeitsmarkt bemerkbar macht, werden Jahrzehnte vergehen. Bis dahin wirkt der demografische Wandel, der sich darin äußert, dass wir deutlich mehr Menschen über 60 als unter 20 oder unter 30 oder unter 40 haben werden. Und selbst wenn es gelänge und wenn die deutsche Gesellschaft das akzeptiert, dass in den nächsten Jahren jährlich (!) rund 500.000 Menschen (und noch mehr) aus dem Ausland mehr ein- als auswandern, dann bleibt die Herausforderung, sie für den Arbeitsmarkt fit zu machen. Und das wiederum muss mit Menschen geschehen, die sie fit machen. Und genau diese Menschen stehen dann für andere Tätigkeiten in der Wirtschaft nicht zur Verfügung. Und die Wirtschaft wird in den nächsten Jahren rund 200.000 Menschen altersbedingt mehr verlieren als gewinnen, wohlgemerkt: pro Jahr. Ob dieses Defizit durch die Digitalisierung und die Zuwanderung (in der gewünschten Qualität) ausgebügelt werden kann, bleibt eher fraglich. Und die Facette „älter“ bleibt auch zu gestalten. Denken wir allein an die Themen „Demenz“ und „Pflege“, aber auch „Mobilität“ und „alter(n)sgerechtes Wohnen“.

Also, es bleibt dabei, die Gesellschaft wird älter. Aber wie steht es mit der Schrumpfung. Muss sie abgesagt werden?
KÖSTERS: Wir sehen ja heute bereits Landstriche in Deutschland, die manche als „verödet“ bezeichnen. Interessant ist, dass dort, wo am meisten räumlich Platz für Flüchtlinge wäre (auch vom baulichen Leerstand betrachtet) der gesellschaftlich größte Widerspruch zur Zuwanderung zu vernehmen ist. Doch selbst wenn es durch eine massive Zuwanderung gelänge, die Bevölkerung insgesamt stabil zu halten (oder gar wachsen zu lassen), bliebe der Dreiklang weniger (Kinder), bunter (mehr Kulturen) und älter (im Durchschnitt 20 Jahre Rente!) zu gestalten. Fazit: der demografische Wandel bleibt. Allerdings ergeben sich neue Chancen, ihn zu gestalten. Und das drückt sich in einer Abmilderung der Auswirkungen und einer zeitlichen Streckung der Wirkungen aus. Wer meint, diesen Wandel nicht gestalten zu müssen, handelt sträflich. Allein die (kommunale) Integration wird die größte Herausforderung sein. Grundlagen dafür sind höchstens in den Großstädten gelegt. Nicht öde oder verödet sein, wird nicht genügen. Da muss unser Land einen größeren Anspruch an sich haben.