Prof. Dr. Henrik Müller: „Unverhoffter Segen für Deutschland“

Prof. Dr. Henrik Müller

Interview mit Prof. Dr. Henrik Müller

Die Forderung nach mehr Zuwanderung für Deutschland halten viele für Arbeitgeber-Propaganda – beispielsweise um hiesige Löhne zu drücken. Wie bewerten Sie solche Aussagen?
HENRIK MÜLLER: Natürlich haben Unternehmen, die auf der Suche nach Mitarbeitern sind, ein unmittelbares Interesse an Zuwanderung. Auf Dauer aber profitiert davon die ganze Gesellschaft – ökonomisch, demographisch, auch kulturell. Die derzeitige Zuwanderungswelle ist deshalb ein unverhoffter Segen für Deutschland. Noch vor wenigen Jahren wäre diese Entwicklung kaum vorstellbar gewesen. Wir sollten diese Chance nutzen

Südosteuropa, Eritrea oder Sudan. Viele Menschen fliehen nicht nur vor Verfolgung, sondern vor Armut. Bleiben deren Heimatländer womöglich deswegen wirtschaftlich auf der Strecke?
HENRIK MÜLLER: Das hängt von der Geburtendynamik in den jeweiligen Ländern ab. Wenn viele Junge nachwachsen, ist die Abwanderung für die Herkunftsländer kein Problem. Im Gegenteil: Starkes Bevölkerungswachstum führt häufig zu Verarmung, weil die Produktionsmöglichkeiten einer Gesellschaft nicht mithalten. Emigration ist dann ein willkommenes Ventil. So war es im Deutschland des 19. Jahrhunderts, aus dem Millionen Menschen auswanderten, vor allem nach Amerika. So ähnlich ist die demographische Situation heute in weiten Teilen Afrikas. In Europa ist die Lage allerdings anders: Die demographischen Aussichten in unseren Nachbarländern ähneln den deutschen. Aber Migration innerhalb Europas bedeutet ja nicht mehr unbedingt den Umzug für den Rest des Lebens. Eher geht es um die vorübergehende Verlagerung des Arbeits- und Wohnsitzes, wenn die Lage anderswo deutlich besser ist als in der Heimat. Die Europäer sind heute ziemlich mobil. Und das ist auch gut so.

Kanada war lange Zeit Vorzeigestaat in Sachen regulierter Einwanderung. Nun verabschiedet sich das Land vom hochgelobten Punktesystem. Es bleibt jedoch bei der Ausrichtung nach den sozialen und wirtschaftlichen Bedürfnissen des Landes. Ein Vorbild für uns?
HENRIK MÜLLER: Nein. Deutschlands Lage ist eine ganz andere. Unsere Grenzen sind offen für alle 500 Millionen EU-Bürger. Die Zuwanderung zu uns ist deshalb nur bedingt steuerbar. Dazu kommen Flüchtlinge aus der geographischen Nachbarschaft Europas – aus Afrika oder dem Nahen Osten –, die wir aus humanitären Gründen nicht abweisen können. Das ist eine weniger komfortable Situation als die Kanadas. Uns bleibt kaum etwas anderes übrig, als die Menschen, die zu uns kommen, möglichst gut zu integrieren.

In der Wirtschaft sind Migranten willkommen. In der Gesellschaft nur bedingt. Was muss sich ändern, für eine bessere Willlkommenskultur?
HENRIK MÜLLER: Schwierige Frage. Eine Kultur ändert man nicht so leicht. Allerdings bin ich da nicht so pessimistisch: In den vergangenen Jahren sind Millionen Menschen überwiegend aus Europa zu uns gekommen, ohne dass es irgendwelche Probleme oder Diskussionen darüber gegeben hätte. Das zeigt, wie nah wir uns in Europa inzwischen kulturell geworden sind. Die Flüchtlingswelle hingegen kam nun überraschend, die kulturelle Distanz ist größer, und es fehlt an Integrationsinfrastruktur. Umso wichtiger sind politische Signale, die klarmachen, dass die Neuankömmlinge hier willkommen sind.

Prof. Dr. Henrik Müller beschäftigt sich seit vielen Jahren mit den Wechselwirkungen der demographischen und wirtschaftlichen Entwicklung. Er ist promovierter Ökonom und wirkt seit 2013 als Professor für wirtschaftspolitischen Journalismus an der Technischen Universität Dortmund. Zuvor arbeitete er viele Jahre als Journalist, zuletzt als stellvertretender Chefredakteur der Zeitschrift “manager magazin”. Auf dem 5. Demografiekongress 2015 hält Prof. Dr. Henrik Müller die Keynote zum Thema „Jahrhundertchance Zuwanderung“.