Migration 4.0: Zukunft statt Herkunft!

Eine Eröffnungsrede, zwei Themenschwerpunkte mit je drei Impulsgebern und zwei Diskussionsrunden, an denen jeder der 45 Teilnehmer aktiv mitwirken durfte. Ganz im Sinne des Kongresses wurde auch die Willkommenskultur auf ihre 4.0-Tauglichkeit geprüft. 4.0 hieß dabei: Wie können wir ein vielfältiges Zusammenleben endlich gleichberechtigt und unabhängig von Herkunft gestalten? Das Fazit: Wir sind noch ein ganzes Stück davon entfernt, Migration als Normalzustand anzuerkennen. Sowohl strukturell als auch in den Köpfen gibt es noch viele Mauern, die eingerissen werden müssen. Ganz klar: 4.0 ist bereits Alltag in unseren Büros, unseren Werkstätten und unseren Industriehallen. Doch wie verhält es sich mit unserer Willkommenskultur? Können wir als zweitgrößtes Einwanderungsland auch von unserer Willkommenskultur behaupten, dass wir bei 4.0 angekommen sind? Ob in Wirtschaft, Politik oder Zivilgesellschaft: Willkommenskultur ist in aller Munde und Migration gesellschaftlicher Alltag. Doch: Wie steht es um die Gleichberechtigung, Anerkennung und Teilhabe in unserer vielfältigen und internationalisierten Gesellschaft? Wer ist hier „deutsch“, wer „Migrant“ – und das wie lange?

Fishbowl im Lichthof

Fishbowl im Lichthof

Angelehnt an das Leitmotiv des Kongresses versuchte Susanna Caliendo, Moderatorin des Forums „Willkommenskultur“ und Leiterin des Europabüros der Metropolregion FrankfurtRheinMain, in ihrer Eröffnungsrede vier Phasen der Migrationspolitik in Deutschland zu skizzieren. Die Grundlage bildete dabei der Zeitpunkt, an dem das Leben von Migrantinnen und Migranten in Deutschland zum ersten Mal aktiv von staatlicher Seite ausgestaltet wurde. Dies geschah in den 70er Jahren, als die sogenannten „Gastarbeiter“ keine Gäste blieben und sozial eingegliedert werden sollten – ohne aber ihre „Rückkehrfähigkeit“ zu beeinflussen. Danach gab es noch zahlreiche weitere Veränderungen: Reformierung des Staatsangehörigkeitsgesetzes, verbesserte Rechtssicherheit und Integrationskurse für Migranten. Gleichzeitig passierte aber viel zu wenig, denn erst Anfang der 2000er Jahre, als Migration aus wirtschaftlichen und demografischen Gründen als notwendig erachtet wurde, wurde der „Status Einwanderungsland“ politisch akzeptiert. Aber war damit auch der Weg für ein gesellschaftliches Selbstverständnis als Einwanderungsland geebnet? Geht es nach den Rednern und Teilnehmern des Forums, ist hier noch viel Luft nach oben. Denn trotz aller staatlichen Eingriffe fehlt es noch immer an Strukturen und an dem Bewusstsein, um der Vielfalt unserer Gesellschaft endlich gerecht zu werden. Im 4.0 sind wir noch lange nicht angekommen.

Themenschwerpunkt 1: (Nationale) Identität neu denken

Claudia Khalifa, Verband binationaler Familien und Partnerschaften, iaf e.V

Claudia Khalifa, Verband binationaler Familien und Partnerschaften, iaf e.V

In ihrem Eröffnungsvortrag erklärte Impulsgeberin Claudia Khalifa, Geschäftsführerin der Frankfurter Regionalstelle des Verbandes binationaler Familien und Partnerschaften, dass rund 50 Prozent der Bewohner Frankfurts einen Migrationshintergrund haben. Will heißen: Wurzeln im Ausland zu haben, sollte heute eigentlich schon „Mainstream“ sein. Doch laut Khalifa sieht die Realität ganz anders aus: als deutsch wird nur wahrgenommen, wer „deutsch aussieht“ und deutsch spricht. Mehrsprachigkeit wird als Ressource weitgehend nicht anerkannt, nur Sprachen wie Englisch und Spanisch werden als profitabel erachtet. Deshalb Khalifas Apell: Eine Gesellschaft, die die Defizite, aber auch die Gemeinsamkeiten mit anderen Kulturen kontextabhängig diskutiert – und nicht isoliert von Rahmenbedingungen betrachtet.

Laura Digoh von der Initiative Schwarzer Menschen in Deutschland (ISD Bund) e. V. betonte in ihrem Impulsvortrag den Stellenwert von Geschichte für die Stiftung nationaler Identität. Anhand der deutschen Wiedervereinigung zeigte sie auf, wessen Erinnerungen in die Geschichtserzählung einfließen und wessen Erinnerungen keinen oder zumindest kaum Niederschlag finden. So umfasse die Wiedervereinigung primär die Erinnerungen der weißen ost- und westdeutschen Bevölkerung, obwohl diese auch die schwarzdeutsche Bevölkerung in Ostdeutschland betraf. Durch diese einseitigen historischen Darstellungen würde, so Digoh, bis heute die Vielfältigkeit nationaler Vorstellungen beschränkt.

Prof. Dr. Ulrich Wagner, Philipps-Universität Marburg

Prof. Dr. Ulrich Wagner, Philipps-Universität Marburg

Als dritter Impulsgeber der ersten Diskussionsrunde fungierte Prof. Dr. Ulrich Wagner von der Philipps-Universität Marburg. Der Sozialpsychologe erläuterte, dass wir nicht die rationalen Informationsverarbeiter seien, für die wir uns oft halten. In Wahrheit würden wir immer wieder von unseren kognitiven und emotionalen Systemen ausgetrickst. So sei die Fähigkeit der Kategorisierung für den Menschen unverzichtbar, um sich im alltäglichen Leben zurechtzufinden. Gleichzeitig würden diese Kategorisierungen aber gesellschaftlich beeinflusst und schnell mit Emotionen verbunden, was vor allem einer Willkommenskultur entgegenwirken kann. Dies berge die Gefahr, Menschen in Schubladen zu stecken. Prof. Dr. Ulrich Wagner appellierte deshalb an die gesellschaftlichen Meinungsführer, verantwortungsvoll mit Zuschreibungen umzugehen.
Drei Referenten, drei Vorträge, drei Perspektiven! Und nun? Der sogenannte Fishbowl, eine dynamische Diskussionsrunde, bei dem das Publikum aktiv mitmischen durfte. Im Kern der Diskussion stand dabei die Feststellung, dass die Migrationspolitik und damit auch die gesellschaftlichen Erwartungen noch immer sehr defizitär ausgerichtet seien. Nicht die Chancen, sondern die Hindernisse sowie Vorurteile würden damit in den Fokus gerückt. Hier brauche es einen Perspektivenwechsel. Heißt: Mit Dialog und Begegnung sollen Gemeinsamkeiten hervorgehoben und Hürden abgebaut werden.

Spielerisch zur Selbsterkenntnis

Zwischen den beiden Thementischen forderte Rosina Walter, Vorstand von DiKoM – Agentur für Diversity Management und Interkulturelle Kompetenz e.V., alle Teilnehmer zu einem Mitmachspiel auf. Ein Spiel, das zum Nachdenken anregte. Die Teilnehmer wurden mittels einer Trennlinie in zwei Gruppen geteilt. Je nach Fragestellung, die nur zwei Antwortmöglichkeiten zuließ, stellten sich die Spielteilnehmer auf die eine oder andere Seite der Trennlinie. Anders ausgedrückt: Wie würden Sie sich fühlen, wenn Sie als einziger Nichtakademiker einer Schar von Akademikern gegenübergestellt werden? Oder was würden Sie empfinden, wenn Sie und wenige andere eine Minderheit bilden, weil Sie über 50 Jahre alt sind? Denken wir noch weiter: Wie würden Sie sich fühlen, als Minderheit zur Schau gestellt und auf diese Eigenschaft festgeschrieben zu werden? Genau diese Erfahrung der Kategorisierung sollte das Spiel übermitteln. Und noch mehr: Auf spielerische Art und Weise regt diese interessante Mitmachaktion zur Selbstreflexion an.

Themenschwerpunkt 2: Fit für Vielfalt

Prof. Dr. Frank Dievernich, Präsident der Frankfurt University of Applied Sciences

Prof. Dr. Frank Dievernich, Präsident der Frankfurt University of Applied Sciences

Die zweite Themenrunde wurde von Impulsgeber Prof. Dr. Frank E.P. Dievernich, Präsident der Frankfurt University of Applied Sciences, eingeleitet. In seinem Kurzvortrag hob Dievernich hervor, dass es nicht ausreicht nur von einer Willkommenskultur zu sprechen, wenn es um Migration 4.0 geht. Mit diesem Kulturbegriff gehen noch drei weitere Kulturbegriffe einher – nämlich Anerkennungs-, Ankommens- und Spielkultur. Kurz gesagt: Migranten willkommen heißen, ihre Werte anerkennen wie auch sie die Werte der Aufnahmegesellschaft anerkennen müssen. Erst die Symbiose dieser vier Kulturbegriffe wird laut Dievernich einem Migrationsbegriff 4.0 gerecht.
Mostafa Maasoud, Rechtsanwalt und Senior Manager im deutschen Büro von Fragomen Global LLP, war der zweite Referent der Themenrunde „Fit für Vielfalt“. In seinem Vortrag konzentrierte sich Maasoud nicht auf die Zuwandernden, sondern nahm im Gegenteil die Auswandernden in den Blick. Rund 40 Prozent der im letzten Jahr ausgewanderten, davon etwa die Hälfte mit Migrationshintergrund, nannten als Hauptgrund ihre Unzufriedenheit. Zahlen, die zu denken geben. Denn was macht vor allem unsere Mitmenschen mit einer Migrationsgeschichte so unzufrieden, dass sie nicht mehr in Deutschland leben möchten? Und müssen Staat, aber ebenso Gesellschaft, Arbeitgeber und die Medien agieren, um den Bleibegedanken der Unzufriedenen zu fördern? Der Rechtsanwalt kennt die Antwort – und spricht in diesem Zusammenhang von einem „Vertrauenszuschuss“: den Mitmenschen mehr Vertrauen entgegenbringen und somit den Inklusions- und Integrationsgedanken fördern, um das Miteinander effektiver zu gestalten.

Szenenwechsel. Ausgehend von den Fragen „Was kommt nach dem ‚willkommen heißen‘? Oder wie steht es in unserer Gesellschaft um eine Anerkennungskultur, die eine gleiche Teilhabe für neue als auch für bereits hier lebenden Einwanderer ermöglicht? Und was fehlt uns hierbei noch? Und vor allem: Wie können wir einen Paradigmen- und Perspektivenwechsel vorantreiben?“ ,betonte die letzte Referentin Christine Stürtz-Deligiannis, Abteilungsdirektorin für Grundsatzfragen und Mitbestimmung in der ING-DiBa AG, dass es insbesondere aus unternehmerischer Sicht ein Balanceakt sei, Menschen einzugliedern, aktiv zu begleiten und dabei die unternehmerischen Ziele im Blick zu behalten.

Mit diesen drei richtungsweisenden Impulsen startete im Anschluss die zweite Diskussionsrunde. Im Hinblick auf die Frage wie es in unserer Gesellschaft um eine Anerkennungskultur steht, waren sich die Teilnehmer in einem Punkt einig: Deutschland braucht effizientere und durchlässigere Strukturen, aber auch mehr Möglichkeiten zur aktiven Teilhabe und Gestaltung. Wichtig sei dabei allerdings, dass viel weniger von einer (vermeintlichen) Herkunft aus gedacht werden dürfe, da die Herkunft und der kulturelle Background viel weniger von Bedeutung seien als die Frage der sozialen Herkunft. Dazu bräuchte es mehr bewusstseinsbildende Maßnahmen in der Gesellschaft. In diesem Zusammenhang wurde abschließend auch noch einmal betont, dass „Fit für Vielfalt“ nicht bedeute, den Fokus nur auf Migrantinnen und Migranten zu legen, sondern die gesellschaftliche Vielfalt als Ganzes in den Blick zu nehmen. Dabei sei es vor allem erforderlich, die Grundhaltung der Menschen fit zu machen für die Vielfalt, da solchen gesellschaftlichen Veränderungen bisher zu wenig Flexibilität entgegengebracht würde. Dazu bedarf es intensiveren Austausch und Dialog zwischen Politik, Wirtschaft, Zivilgesellschaft und Wissenschaft. Das Forum Willkommenskultur sei damit nur ein erster Schritt, um neue Lösungswege zu erarbeiten.

Autor: Gökan Tolga

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