Jule Weber: Prosatext „Zukunftsmusik“

Seit 2009 trägt Jule Weber erfolgreich Prosa und Lyrik auf Bühnen vor und ist mittlerweile zur Poetry-Slam-Meisterin gekürt worden. Ihre Expertise belohnte das Kongresspublikum mit großem Beifall.
Den Vortragstext „Zukunftsmusik“ gibt es jetzt hier zum Nachlesen.

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Pssst.
Kannst du sie hören?
Hörst du wie laut sie ist?
Hörst du…die Zukunft?

Zukunftsmusik

Wir sind Virtuosen unsrer Zeit, mit fein gestimmten Instrumenten und modisch-melodischen Möglichkeiten.
Die erste Geige spielt Anna: Abitur, Ausbildung, Aussichtsreich.
Auslandsjahr, Praktikum, Engagement, Praktikum, Lebenslauf lückenlos,
Prognose: aufstrebend.
Anna weiß, was sie kann, Mama wusste das schon immer und die Kollegen wissen..es zu schätzen.
Aber jetzt ist Anna plötzlich still geworden, ein Patzer im Panzer der Perfektion.
Anna ist schwanger und in ihrem Kopf hört sie den Chef, der vor Wochen schon schimpfte, über den Ausfall, die Ersatzteilzeitkräfte, das ganze Chaos im Betrieb, nur weil wieder zwei von den Damen meinen, daheim bleiben sei wichtig, danach nur noch Teilzeit, bis die Kinderbeine stark genug sind, um sich selbst zu tragen.
Anna hat Angst, es auf der Arbeit zu sagen, war sie doch immer das Aushängeschild. Das Paradebeispiel für ihre Generation: gebildet und emanzipiert.
Anna ist schwanger und in ihrer Brust, wuchert plötzlich die Wärme. Und sie sieht es vor sich: ein winziges Kind, schlafend, im Wagen, im Garten.
Einfach mal raus – die ersten Jahre genießen, denkt Anna daran, hüpft ihr Herz im Akkord. Doch bedeutet die Laufbahn als Vollzeitmutter: die erste Geige kommt weg und bleibt wohl auch fort.

Im Orchester wird keiner den Unterschied merken, der Wechsel der Spieler ist bekannt, wie das Stück, nur gelegentlich hört man Unreinheiten, kleine Ausfälle, die man schnell überbrückt.

Martin ist wieder mal müde und irgendwie tut ihm der Kopf weh. Er spielt Klarinette, im vierunddreißigsten Jahr und erlaubt sich dabei keinen Fehler.
Das macht ihn stolz, ist aber ein ganzes Stück Arbeit, er übt dafür jeden Tag.
Martin leitet Projekte, im Büro und daheim und in der Gemeinde, hat drei Handys in der Tasche, zwei Kinder zuhause, eine Frau und ein Vorzeigeleben.
Martin ist wieder mal müde und irgendwie tut ihm der Kopf weh, darum dreht er das Radio ab, im Auto, morgens im Stau auf der A5, weil er hofft, dass es dann wieder besser wird.
Er hat es nicht seiner Frau gesagt, hat sie nicht wecken und nicht den Blick sehen wollen, das gefragte „schon wieder“, die Sorge, die Falten. Er fährt morgens so oft, bevor sie aus dem Bett ist und kommt heim und fragt sich, ob sie mal aufgestanden war.
„Das ist eine Phase“, sagt er in ihr Haar, er hofft, dass sie hört und versteht.
Martin ist wieder mal müde und irgendwie tut ihm der Kopf weh, trotz der Schmerztabletten, die wirken seit langem nicht mehr. Und heute ist es noch schlimmer und er ist schrecklich verwirrt, sitzt im Auto, im Stau und weint wie ein Kind.
Will nach Hause fahren, einfach gegen den Strom, sich wieder hinlegen und Jahre lang schlafen. Er erinnert sich nicht an den letzten Roman, das letzte Mal Kino, das letzte Mal Sex, er erinnert sich nicht, wann er aufgehört hat, vom Musik ganz kribblig zu sein.
Martin pfeift auf dem letzten Loch und für einen kurzen Moment, bemerkt das Orchester den schiefen Halbton, dann ist Martin raus, irgendwer übernimmt.
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Anna und Martin sind Teil eines Millionen Mann Orchesters.
Mit Flöten und Trompeten, Posaunen, Fanfaren, Pauken, Geigen und Gesang spielt jeder für sich den Klang der Zukunft, erst gesammelt wird es eine Melodie.

Ganz an der Spitze steht Dirigent Demograf und Überblickt mit Sorge die Masse.
Sieht sie Altern und Gehen und neue kommen, verteilt Plätze, schickt zum Üben und Stimmen.
Manchmal ertönt in den kurzen Pausen, ein Lied, dass er noch gar nicht kennt. Auf fremden Instrumenten, mit ganz neuen Klängen, er ordnet sie ein, passt sie an.
Anna und Martin, zwei Virtuosen, mit starken Stimmen und Rückgrat, schweigen zuletzt, weil um sie her alles laut ist und der Druck sie nach und nach auffrisst.
Und sie sind nicht alleine –doch wissen das nicht, denn die anderen kriegen hier keine Namen.
Sie sind Cellisten und Trommler und Tamborinschüttler, sie sind Väter und Schwestern und Freunde.
Sie sind Nachbarn, sie sehen wie andere gehen, wie neue kommen und bleiben.
Sie sind Teilzeitarbeiter und Herzblutmusikanten, sie alle kennen ihr Lied.

So auch Anna, die gestern ihr Kind bekam und Martin, in seinem Urlaub.
Sie haben die Instrumente verpackt, Martin liest gerad „Krieg und Frieden“. Er sitzt dabei im Garten, auf der Bank unterm Baum, das Orchester kann einfach mal warten.
Und Anna, die stillt in der Nacht ihren Sohn, seit gestern spielt er liebend gern Trommel und sie streicht ihm den Kopf und ahnt seinen Platz und sagt: „Das kann alles noch warten“
Der Demograf derweil: Er lächelt, weil es immer noch läuft und laufen wird, trotz der Krisen.
Mal ist die Musik vielleicht etwas schief und an manchen Stellen zu leise.
Aber das Lied, spielt weiter, Jahr um Jahr um Jahr, dank Individualität und Zeitgeist.