Wir brauchen eine Kultur der Veränderung!

Ranga YogeshwarDetlef Lamm

Ranga Yogeshwar und Detlef Lamm im Gespräch


Lamm: Die AOK Hessen hat bereits vor einigen Jahren ein Handlungsprogramm zum Thema Arbeitswelt 4.0 ins Leben gerufen. Ziel ist es, die auf uns zukommenden Veränderungen passend zu unseren spezifischen Anforderungen aktiv zu gestalten, sie zu steuern und vor allem auch, unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu unterstützen und „mitzunehmen“. Wir begreifen die anstehenden Schritte als wichtige Chancen für unsere weitere Unternehmensentwicklung. Was mich natürlich brennend interessiert: Was sind die Erfahrungen anderer Unternehmen? Wie machen sie es? Wo sehen sie die Probleme, wo die Chancen? Ich nehme an, genau mit diesen Fragen werden Sie sich in Ihrer Keynote und die Teilnehmerinnen und Teilnehmer in den Denkräumen beschäftigen?

Yogeshwar: Ganz genau. Die Arbeit verändert sich gerade in vielen Unternehmen massiv. Die Zeit der Stechuhren ist definitiv vorbei. Und das ist ein globaler Trend. Auch die frühere Domizilpflicht wird aufgelöst – und damit die Work-Life-Balance neu gesetzt. Man kann ja heute von überall her arbeiten. Einerseits. Andererseits wird die Wechselwirkung, die Herzenswärme weiter gebraucht. Das sehen Sie zum Beispiel gut daran, wie wichtig Dienst- und Geschäftsreisen bleiben, ungeachtet aller neuen technischen Möglichkeiten wie Video- und Skype-Konferenzen. Die Unternehmen und Beschäftigten suchen da gerade nach probaten Wegen für eine neue Balance.

Lamm: So auch wir. Arbeitswelt 4.0 heißt für unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter konkret, dass wir beispielsweise schon jetzt flexibles und mobiles Arbeiten ermöglichen. Zum Beispiel im Home-Office oder, etwas verbindlicher, als Teleheimarbeit. Zusätzlich haben wir Desk-Sharing-Areas eingerichtet, in denen auch ein Familienzimmer angeboten wird. Das kommt sehr gut an!

Yogeshwar: Und das führt dazu, dass viele Mitarbeiter die Arbeitszeit flexibler gestalten können und sich diese dann besser mit dem Familienleben vereinbaren lässt. Das ist gerade für junge Familien sehr wichtig. Andererseits muss auch klar bleiben: Wo ist die Heimat dieser Menschen? Es wird problematisch, wenn man auch zuhause immer noch der Arbeitnehmer ist.

Lamm: Stimmt, das müssen wir im Auge behalten, genauso wie die Interessen unseres Unternehmens. So haben wir mit Blick auf die anstehenden sehr herausfordernden demografischen Veränderungen in unserer Beschäftigtenstruktur die Zahl unserer Neueinstellungen in den vergangenen Jahren signifikant und vorausschauend ausgeweitet. Gleichzeitig treiben wir die Digitalisierungsthemen mit zahlreichen IT-Projekten und Investitionen voran. Denn der Arbeitsmarkt gibt in den kommenden Jahren so viele Fachkräfte nicht mehr her, wie wir sie für eine gleichbleibende Arbeitswelt benötigen würden. Weil wir gleichzeitig immer mehr Kundinnen und Kunden gewinnen, ergibt sich daraus fast zwangsläufig eine große Herausforderung. Insoweit sind wir bereits mitten drin und engagiert dabei, unser Unternehmen weiterzuentwickeln und zukunftsfähig zu gestalten. Unser Personalmanagement ist seit Jahren auf diese künftigen demografischen Aufgabenstellungen hin ausgerichtet. Die Digitalisierung verstehen wir daher ausdrücklich als Bestandteil einer vorausschauenden Personal- und Geschäftspolitik. Sie hilft uns einerseits, dem Fachkräftemangel zu begegnen und Effizienzpotenziale zu erschließen und anderseits, das Kundenerlebnis über neue Prozesse weiter deutlich zu verbessern.

Yogeshwar: Ja, das Kundenerlebnis über neue Prozesse zu bereichern, kann an einigen Stellen sehr gut funktionieren, zum Beispiel, wenn wir an die regelmäßigen Fahrten von Patienten zur Dialyse denken. Sowohl in der Logistik wie in der Administration haben wir da vier miteinander verbundene Regelkreise, nämlich Patient – Praxis – Taxiunternehmen und Krankenversicherung, was einen beachtlichen Aufwand schafft. Hier kann man sich eine enorme Vereinfachung vorstellen – zum Beispiel mit einer App nach dem Vorbild von My Taxi. Andere Bereiche verlangen Vorsicht. Die Digitalisierung funktioniert ja gut für Standardprozesse. Aber Menschen mit ihren Sorgen sind oft sehr eigen. Das braucht Menschen, nicht KI. Insofern verstehe ich die Brisanz des Fachkräfteproblems sehr gut.

Lamm: Umso wichtiger, dass wir alle Quellen nutzen und die Chancen der Digitalisierung sehen. Diese Perspektivenverschiebung gilt nicht nur für die „großen Linien“, sondern fängt schon im Kleinen an. Das Vorstandsteam der AOK Hessen arbeitet zum Beispiel völlig papierlos – eine wichtige Voraussetzung, um mobiles und flexibles Arbeiten überhaupt nutzen zu können. Auch bei unseren AOK-Zukunftsfrühstücken, bei denen der Vorstand mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern über Zukunftsthemen ins Gespräch kommt, stößt diese Form des Arbeitens auf breites Interesse. Da kann man es auch einmal ganz praktisch zeigen, wie das als ein Beispiel im Management aussieht. Auch bei mir war es anfangs eine bedeutende Umstellung, doch es wird dann rasch zur Routine. Man muss es wollen und dann auch tun.

Yogeshwar: Das ist genau die richtige Herangehensweise, finde ich. Ich habe eine ganz ähnliche Erfahrung gemacht, als ich meinen Kalender nach vielen Jahren von Papier auf elektronisch umgestellt habe. Anfangs bin ich noch zweigleisig gefahren. Heute könnte ich mir eine Rückkehr zu Papier überhaupt nicht mehr vorstellen, es wäre ein qualitativer Rückschritt. Meine Frau setzt mir von zuhause aus Termine rein, egal, in welchem Erdteil ich gerade bin, weiß immer, wo ich bin und, nicht zu unterschätzen, der Kalender kann nicht verloren gehen. Das ist nur ein Beispiel für eine umfassende Dematerialisierung, die wir gerade erleben – denken Sie nur an die Schallplattensammlung, aus der ein Abo by Spotify geworden ist. Solche neuen Dinge sind immer mit Schwellen gekoppelt, aber sie setzen sich durch. Niemand hat uns gezwungen, Flüge online zu buchen oder online zu kaufen. Irgendwann tun wir es einfach, weil der Nutzen da ist Und auch im hohen Alter sollte man sich noch einen Ruck geben. Meine Schwiegermutter ist da ein gutes Beispiel. Sie ist über 80, und ihre Enkel haben sie einfach auf What’s App eingebunden. Heute ist sie die What’s App-Queen und hat mehr Kontakt zu ihren Enkeln als je zuvor.

Lamm: Ja, so geht Veränderung, und diese Kultur ist uns sehr wichtig. Auch, weil wir Digitalisierung, wie gesagt, nicht nur als Thema der Personalpolitik sehen, sondern ebenso der Geschäftspolitik. Stichwort „Disruptive Geschäftsmodelle“. Oft hat man den Eindruck, das ist mehr Schlagwort als reale Bedrohung.

Yogeshwar: Sehr wichtiger Punkt, denn dieser Eindruck kann sich ganz schnell ändern. Nehmen Sie nur die rasenden Fortschritte, die gerade in der Bilderkennung passieren, und stellen Sie sich das in der Hand von Google vor: Wenn Erbkrankheiten, beginnende Depressionen und immer mehr Krankheitsbilder durch Bildanalysen prognostiziert werden. Was, wenn Google beschließt, mit diesem Können in das Geschäft der Lebens- und Krankenversicherer einzusteigen? Wie antworten die klassischen Versicherer darauf? Ich denke, das braucht eine große ethische Debatte, sowohl was den Schutz von Persönlichkeitsrechten angeht, als auch das Solidarprinzip der Versicherungen. Da ist eine ganze Gesellschaft gefragt. Wichtig ist mir nur: Diese Fragen kommen viel schneller auf uns zu, als noch viele von uns, gerade auch in Politik und Wirtschaft, denken.

Lamm: Ich sehe, wir können uns wirklich freuen auf Ihre Keynote am 4. April 2019 in der IHK Frankfurt am Main. Vielen Dank für das Gespräch und den Austausch zu den Zukunftsthemen!