Nachbericht – Denkraum blau

9. Kongress des Demografienetzwerkes FrankfurtRheinMain „Denkraum Zukunft. Fachkräfte für morgen.“

 

Was die Digitalisierung für die (Weiter)Bildung bedeutet

 

Moderation: Frederik André Marohn (Regionaldirektion Hessen der Bundesagentur für Arbeit)
Impulsgeber:
Prof. Klocke (FRA-UAS)
Claudia Knobel (Hessisches Ministerium für Wirtschaft, Energie, Verkehr und Wohnen)
Marco Weißler (Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung)
Corinna Vogt (ING Deutschland)

 

„Wie beeinflusst die Digitalisierung die Fachkräfteentwicklung in der Region?“ und „Was muss getan werden, um gut für die digitale Zukunft aufgestellt zu sein?“ Mit diesen Leitfragen eröffnete Moderator und Arbeitsmarktexperte Frederik André Marohn die im weiteren Verlauf sehr lebhafte und inspirierende Diskussion. Es ging um Qualifizierung, neue Arbeitsformen und nicht weniger um eine andere Form des Denkens. Aber der Reihe nach:

Impulsgeber Prof. Andreas Klocke von der FRA-UAS fasste seine Antwort auf die Leitfragen mit einem Buchtipp für „Das metrische Wir – über die Quantifizierung des Sozialen“ zusammen. „Wir haben es hierbei mit der Vernetzung schier unvorstellbar großer Datenmengen zu tun. Das ist eine völlig neue Dimension, die es in keiner gesellschaftlichen Transformation bislang gab. Und so vernetzt können wir aber nicht denken: Ging es gestern noch um ein Problem oder eine konkrete Fragestellung, hängt morgen alles mit allem zusammen. Wir denken dann nicht mehr in Produkten, sondern in Prozessen. Keiner weiß, wie das genau aussieht.“ Aus Sicht seiner Hochschule bedeutet diese Transformation dreierlei:

Erstens kommt dem Lebenslangen Lernen eine essentielle Rolle zu. Weil sich Berufsbilder viel schneller wandeln werden als bislang, ist der Prozess des steten Lernens mit dem Aufwand eines zweiten Studiums vergleichbar. Es nütze ja nichts, nur auf den Nachwuchs zu setzen, das dauere viel zu lange und decke den Bedarf auch quantitativ nicht ab, weshalb auch die Belegschaft stets weitergebildet werden müsse, so Klocke.
Zweitens müsse der Transfer Hochschulen – Unternehmen besser gelingen. Zwar helfen Lehrbeauftrage aus der Wirtschaft, dennoch gleiche der Wissensaustausch bislang noch einer Einbahnstraße, weil sich Unternehmen nur dann melden, wenn sie einen konkreten Bedarf haben. Die Hochschulen selbst müssten ihre Kompetenzen stärker nach außen zeigen. Weil das aber auch eine Frage der finanziellen Ausstattung ist, liegt die Wirklichkeit noch hinter dem Wunsch zurück.

Drittens müsse dieses Lernen viel individualisierter ablaufen. Ein Qualifizierungsangebot, das dann für alle passt, hat ausgedient.

 

Es braucht Geld und viele Gespräche – oder andersherum

 

„Aber von wem soll eine solche Qualifizierung kommen?“, fragte ein Teilnehmer im Fishbowl. „Wissenschaftliche Mitarbeiter und Lehrpersonal werden viel zu schlecht bezahlt. Wer wirklich fit ist, sucht sich doch lieber einen gut bezahlten Job in der Wirtschaft.“

Impulsgeberin Claudia Knobel vom Hessischen Wirtschaftsministerium brachte mehrere Modellprojekte ins Spiel, die besonders die digitale Qualifikation von Azubis und Trainern in den Blick nehmen. In der Verantwortung seien aber auch die Akteure selbst: Sie müssen der Politik sagen, was sie benötigen. Dann kann die Politik schauen, dass sie mit den passenden Förderprogrammen reagiert. Dazu braucht es viele Einzelgespräche, gerade mit Unternehmen – womit Knobel die Beobachtung von Klocke unterstützt, dass sich die Wirtschaft noch stärker mit anderen Partnern austauschen sollte.

Ein weiteres Förderprogramm mit dem Fokus auf Unternehmen ergänzte Fishbowl-Teilnehmer INQA.

 

Eine genial einfache Lösung

 

Dass das Miteinanderreden hilft, verdeutlichte an diesem Abend niemand so konkret wie Corinna Vogt von der ING. Ihre Bank schickt sich an, innerhalb von nur 18 Monaten vollkommen agil zu arbeiten: ohne Abteilungsleiter, ohne festen Arbeitsplatz – und ohne ausreichend Fachkräfte für die IT. Was andere Unternehmen in die Verzweiflung treiben würde, löst die ING – wie sollte es anders sein – ganz agil: In ihrem Smart-Mover-Programm hat die Bank 18 IT-relevante Stellen intern ausgeschrieben. Bewerben kann sich jeder der 4.000 Mitarbeiter, der Lust auf den neuen Job hat – auch wenn er gar keine entsprechende Ausbildung mitbringt. Wer sich zutraut, sich in die neue Aufgabe reinzufuchsen, ist herzlich willkommen.

Wie sie es schaffe, dass die Mitarbeiter diese Umstrukturierung annehmen und woher man überhaupt wisse, welcher Kollege für diese ausgeschriebenen Stellen geeignet sei, waren anschließende Fragen in der Fisbowl-Diskussion. „Mitarbeiter müssen den Nutzen der Digitalisierung erkennen.“ so Vogt. Dazu hat sie ein Format entwickelt, in dem ihre Kollegen einen halben Tag lang das agile Arbeiten ausprobieren können. Wenn sie dann merken, wie das agile Arbeiten hilft, sich von nervigen Zeitfressern zu befreien und sie die gewonnene Zeit für sinnvollere Tätigkeiten verwenden können, lassen sich selbst diejenigen überzeugen, mit denen man gar nicht gerechnet hätte.

Versteckte Potenziale erkenne sie an ganz einfachen Dingen: „Jeder von Ihnen kennt doch bestimmt jemanden im Team, den man immer dann fragt, wenn man ein Problem mit Excel hat.“ Wer gut im Handling von Datenbanken aller Art sei, könnte theoretisch auch als nächste IT-Fachkraft in Betracht kommen. In einem Assessment-Center schaut die ING dann viel mehr auf die Soft Skills des Bewerbers, was auch einen Wandel der bisherigen Personalpolitik darstellt: Potenzial, die Bereitschaft dieses zu entfalten und sich damit auf eine neue Reise „on the job“ zu begeben, werden wichtiger als gute Noten und Diplome.

 

Restangst pragmatisch begegnen

 

Aber was ist mit den Menschen, für die all die vorgeschlagenen Programme und agilen Ansätze nicht greifen? Nach Einschätzungen von Impulsgeber Marco Weißler vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit kann an jedem vierten Arbeitsplatz in Hessen der überwiegende Anteil an Tätigkeiten bereits heute durch computergesteuerte Systeme übernommen werden. Ob diese Arbeitsplätze deswegen am Ende tatsächlich wegfallen, ist ungewiss. Vermutlich werden sich deren Tätigkeiten aber in den nächsten Jahren stark verändern.

„Was mache ich dann mit denen, die für mehr als eine einfache Tätigkeit nun mal nicht geeignet sind?“ wollte ein Jobcenter-Mitarbeiter im Fishbowl wissen. Frederik André Marohn rückte das Heute in den Fokus: „Solange das autonome Fahren nicht da ist (und nach der Schätzung von Keynotespeaker Yogeshwar würde das noch mindestens zehn Jahre dauern), brauchen wir weiterhin Berufskraftfahrer und Personen, die Züge führen.. Die Menschen benötigen auch die Qualifikation für ihre aktuellen Aufgaben. Diese Botschaft ist wichtig.“

Eine weitere Botschaft hatte Vogt für eine Fishbowl-Teilnehmerin, die wissen wollte, woher speziell Frauen nach langer Familienzeit wissen sollen, welche Qualifizierung sie für den Arbeitsmarkt brauchen. Um einer Überforderung der vielen Angebote zu entgehen, sollen sich diese Frauen fragen, in welchem spezifischen Beruf sie gerne arbeiten möchten. Dann kann man schauen, was genau sie dafür benötigen. Marohn verwies darüber hinaus auf das neue Qualifizierungschancengesetz, mit dem es neue Möglichkeiten der Weiterbildung, insbesondere für Beschäftigte geben soll.

Abschließend brachte Frau Vogt eine wesentliche Erkenntnis des Denkraums so auf den Punkt: „Es ist wie es ist. Jammern hilft nicht. Meistens findet man gute Lösungen in Unternehmen.“

 

 

 

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